Warum ländliche Entwicklung nicht möglich ist, solange geschlechtsspezifische Gewalt überall auf der Welt existiert
Blog von Tina Beuchelt, Dennis Aviles und Emily Brown*
Trotz jahrzehntelanger Kampagnen und Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, die von feministischen Gruppen und Bewegungen auf der ganzen Welt geführt werden, ist die Zahl der Frauen und Mädchen, die häusliche, partnerschaftliche und sexuelle Gewalt erleben, nach wie vor erschreckend hoch:
Eine von drei Frauen weltweit erfährt im Laufe ihres Lebens sexuelle oder körperliche Gewalt, meist durch einen früheren oder jetzigen Lebenspartner. Täglich werden 137 Frauen von einem männlichen Familienmitglied getötet (UN Women 2021). Im globalen Norden, z. B. in Deutschland oder im Vereinigten Königreich, wird im Durchschnitt alle drei Tage eine Frau von einem Mann -zumeist der derzeitige oder ehemalige Partner – getötet[i] und alle 45 Minuten wird eine Frau Opfer körperlicher Gewalt, die ihr Lebenspartner ausübt[ii]. Dabei handelt es sich um Straftaten, die speziell wegen ihres Geschlechts an Frauen und Mädchen begangen werden. Es ist bereits bekannt, dass dieses Ausmaß an Gewalt erhebliche Auswirkungen auf das Leben von Frauen in der ganzen Welt hat. Dennoch hat die häusliche Gewalt seit Beginn der COVID-19-Pandemie in alarmierender Weise zugenommen. Zwar wurde dies von Frauen und feministischen Bewegungen aufgedeckt und nachgewiesen, aber die Politik reagierte in den meisten Ländern mit einem umfassenden politischen Schweigen. So ergab eine 2020 von CARE UK durchgeführte Umfrage unter 30 nationalen COVID-19-Krisenausschüssen, dass 54 % der befragten Länder keine Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt ergriffen hatten. Der Anteil der Männer in diesen Ausschüssen lag im Durchschnitt übrigens bei 76 %[iii].
Was ist geschlechtsspezifische Gewalt?
Geschlechtsspezifische Gewalt ist jede Form von Gewalt gegen Frauen, oder Männer und andere Geschlechtsidentitäten, und umfasst alle Formen körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt. Es handelt sich um Gewalt gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität. Die häufigste Form ist nach wie vor die Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Geschlechtsspezifische Gewalt ist eine der am weitesten verbreiteten, grundlegenden Menschenrechtsverletzungen und hat ihre Wurzeln in sozialen Normen, Diskriminierung und Machtgefällen, die die Geschlechterrollen und Ungleichheit weltweit prägen.
Warum ist es notwendig, über geschlechtsspezifische Gewalt im Zusammenhang mit der ländlichen Entwicklung im Globalen Süden zu sprechen?
In den meisten Ländern des Globalen Südens hängen die zahlreichen kleinbäuerlichen Familien für ihren Lebensunterhalt in hohem Maße vom Zugang zu Land, natürlichen Ressourcen, menschlicher Arbeitskraft sowie von einem guten Gesundheitszustand aller Familienmitglieder ab. Begrenzter Zugang zu und Kontrolle über Ressourcen, mangelnder Zugang zu Bildung und Gesundheitsdiensten, Ernährungsunsicherheit sowie unangemessene oder nicht vorhandene politische Maßnahmen, Gesetze und Institutionen stehen häufig in Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt und können zu Teufelskreisen führen.
Geschlechtsspezifische Gewalt schränkt die Fähigkeit von Frauen ein, Entscheidungen zu treffen, insbesondere in Bezug auf Finanzen, und verringert ihren Zugang zu Projekten, gemeinschaftlichen oder genossenschaftlichen Ressourcen und Dienstleistungen, einschließlich des Zugangs zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln, Beratungen und Schulungen. Darüber hinaus kann sie dazu führen, dass Frauen aufhören, sich aktiv an Gruppen zu beteiligen und Führungsaufgaben zu übernehmen. Neben den unmittelbaren Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit können Frauen, die häusliche Gewalt erleben, auch ihr Selbstvertrauen, ihr Selbstwertgefühl und ihre Fähigkeit, für sich und ihre Familien zu sorgen, einbüßen. Frauen sind dann unter Umständen nicht mehr in der Lage, sich in vollem Umfang an der Landwirtschaft, an Gemeinschaftsaktivitäten oder an Projekten zur Entwicklung des ländlichen Raums zu beteiligen, die z.B. nachhaltige Anbaumethoden zum Ziel haben. Geschlechtsspezifische Gewalt kann darüber hinaus zu Arbeitskräftemangel oder einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktivität führen, was wiederum Armut, Ernährungsunsicherheit und Unterernährung begünstigt und so den Teufelskreis verstärkt.
Warum erkennen wir als Gesellschaft immer noch nicht die Auswirkungen von Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen in all ihren Dimensionen an, einschließlich der Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu Landwirtschaft, Umwelt- und Naturschutz?
Brauchen wir mehr Kampagnen über die Zusammenhänge von geschlechtsspezifischer Gewalt und ländlicher Entwicklung?
Die einfache Antwort lautet: Ja. Zu viele Wissenschaftler*innen, Entwicklungshelfer*innen, politische Entscheidungsträger*innen und Geldgeber sind sich der Gewalt in ländlichen Haushalten, und wie sie die Landwirtschaft, Umwelt- und Naturschutzfragen beeinflusst, nicht bewusst.
Tina Beuchelt
Ein treibender Faktor für die Organisation einer Veranstaltung zu diesem Thema am Zentrum für Entwicklungsforschung waren die persönlichen Erfahrungen von Tina Beuchelt, eine der Organisatorinnen und Autorinnen. Zu ihren Forschungsgebieten gehören u.a. Landmanagement, Saatgutsysteme und die Einführung von landwirtschaftlichen Technologien und verbesserten, nachhaltigen Bewirtschaftungspraktiken. Einer ihrer Schwerpunkte dabei ist es, besser zu verstehen, wie und warum neue oder verbesserte landwirtschaftliche Verfahren oder ertragreichere Sorten von Bäuer*innen übernommen werden oder nicht.
Deshalb hat sie sich ausführlich mit Frauen und Männern darüber unterhalten, wie die Arbeitsaufteilung in der Landwirtschaft und im Haushalt funktioniert, wie vorhandene Ressourcen verteilt werden, wer welche Entscheidungen trifft und warum. Dabei stellte sie fest, dass unabhängig davon in welchem Land Asiens, Lateinamerikas oder Afrikas sie diese Gespräche führte, die interviewten Frauen häufig das Thema häusliche Gewalt ansprachen, auch wenn es um Entscheidungen in der Landwirtschaft ging. Die auffallend hohe Häufigkeit, mit der Frauen häusliche Gewalt ansprachen, lies sie nicht los. In Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, die auch in der Agrarforschung tätig sind, stellte sie fest, dass alle ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Und nicht selten blieb das von den weiblichen Befragten/Forschungsteilnehmerinnen angesprochene Thema der geschlechtsspezifischen Gewalt unbehandelt, da die Forschung auf landwirtschaftliche Entwicklungsfragen ausgerichtet war. Als klar wurde, dass geschlechtsspezifische Gewalt die Beteiligung von Frauen in der Landwirtschaft und den damit verbundenen Entscheidungsprozessen massiv beeinträchtigt – und gleichzeitig in der Agrar- ländlichen Entwicklungsforschung vernachlässigt wird – beschloss Tina zusammen mit der Gender-Gruppe des ZEFs, dieses Thema aktiv anzugehen.
ZEF-Veranstaltung: Geschlechtsspezifische Gewalt und Auswirkungen auf ländliche Entwicklung
Seit 1981 begeht die Welt jeden 25. November den “Internationalen Tag der Vereinten Nationen zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen” zu Ehren dreier Aktivistinnen, die von einem Diktator in der Dominikanischen Republik ermordet wurden. Diese Tatsache, wie auch das Datum selbst, ist wenig bekannt. Die ZEF-Gendergruppe beschloss, anhand mehrerer Fallstudien zu untersuchen und aufzuzeigen, wie geschlechtsspezifische Gewalt über die direkten Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden hinaus die ländliche Entwicklung beeinflusst und was dagegen getan werden kann. So präsentierten am 25. November 2021 vier Forscherinnen und Praktikerinnen aus Asien (Assistenzprofessorin Dr. Sonia Akter), Afrika (Dr. Constance Awinpoka Akurugu), Lateinamerika (Pricilla Pecho Ricaldi) und Europa (Emily Brown) Ergebnisse ihrer Arbeit diesbezüglich und zeigten Wege für Veränderungen auf. (Lesen Sie hier mehr und sehen Sie sich die Videos hier an: https://bit.ly/ZEFGG-Event).
Einige unserer wichtigsten Erkenntnisse aus den Präsentationen
- Die Erfahrungen, die Frauen in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt machen, sind überall auf der Welt ähnlich.
- Gewalt gegen Mütter kann sich auch auf die schulischen Leistungen der Kinder auswirken, auch wenn die Kinder selbst nicht direkt von der Gewalt betroffen sind. So läuft die nächste Generation Gefahr, geringere Entwicklungsfortschritte zu machen[iv].
- Gewalt kommt vor allem dort vor, wo formelle Institutionen schwach oder nicht vorhanden sind, wie es in ländlichen Gebieten häufig der Fall ist. Manchmal tragen informelle Institutionen (z. B. lokale Häuptlinge/Ältestenräte) zum Schutz der Frauen und zur Verringerung der häuslichen Gewalt bei; in anderen Fällen sind sie Teil des Problems und verstärken ungerechte soziale Normen.
- Projekte, die darauf abzielen, Frauen zu stärken, ohne dass zuvor eine geschlechtsspezifische Analyse durchgeführt wurde oder die männliche Bevölkerung einbezogen wurde, können zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt führen[v].
- Die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt und insbesondere von Gewalt gegen Frauen ist eine Antwort auf das Menschenrecht, frei von Gewalt zu leben. Die Referenten betonten, dass schädliche, diskriminierende soziale Normen und Kulturen keine Rechtfertigung für Menschenrechtsverletzungen sein dürfen.
Einige Möglichkeiten, geschlechtsspezifische Gewalt zu reduzieren
Es gibt eine Vielzahl von Ansätzen und Strategien zur Beendigung geschlechtsspezifische Gewalt, die sich als erfolgreich erwiesen haben, wenn Engagement, gute Partnerschaften und gute Verbündete vorhanden sind. Untersuchungen in 70 Ländern über einen Zeitraum von 20 Jahren haben bestätigt, dass das wirksamste Mittel zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen der Aufbau starker Frauenbewegungen ist – ein Faktor, der stärker zu Fortschritten in diesem Bereich beiträgt als der wirtschaftliche Fortschritt eines Landes oder die politische Couleur seiner Regierung[vi]. Von der Weltbank durchgeführte Untersuchungen haben ergeben, dass die Präsenz von Frauen in verschiedenen Gremien und Institutionen in Ländern mit höherem Einkommen dazu geführt hat, dass Frauenrechtsfragen – einschließlich Gewalt gegen Frauen, Mutterschaftsurlaub und Kinderbetreuung – auf der Tagesordnung der Regierung und der Medien einen höheren Stellenwert haben[vii].
Eine randomisierte Kontrollstudie des Programms SASA! Raising Voices, bei dem es um das Verständnis von Macht und Machtverhältnissen ging mit dem Ziel, Gewalt gegen Frauen zu verhindern und das HIV-Risiko zu verringern, stellte bei der Analyse der Wirkungen auf Gemeindeebene fest, dass die Raten körperlicher Partnergewalt in den teilnehmenden Gemeinden um 52 % niedriger waren als in den Vergleichsgruppen[viii]. Zu den weiteren Ansätzen, die in der Landwirtschaft zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt angewandt werden, gehören die so genannten haushaltsbezogenen Ansätze, bei denen Ausbildung und Beratung darauf abzielen, Veränderungen in den Geschlechterbeziehungen “innerhalb” eines Haushalts herbeizuführen, anstatt von außen über Gruppentrainings von Frauen vermittelt zu werden[ix].
Frauenorganisationen und -bewegungen in allen Ländern schließen sich zunehmend zusammen, um sich zu organisieren, Geldmittel zu beschaffen und Strategien zu entwickeln, um der anhaltenden Gewalt zu trotzen – und um weiterhin Veränderungen zu fordern. Es ist an der Zeit, dass wir alle, die wir in den Bereichen Entwicklung und Forschung tätig sind, diese Forderungen unterstützen und unsere Stimmen und unser Fachwissen in diese globalen Bemühungen und Aktionen einbringen. Wir alle haben die Aufgabe, die tiefgreifenden Auswirkungen geschlechtsspezifischer Gewalt auf unsere Arbeit zu verstehen – unabhängig davon, in welchem Bereich oder zu welchem Thema wir arbeiten – und zu erkunden, was jeder von uns tun kann, um zu den systemischen Veränderungen beizutragen, die erforderlich sind, damit geschlechtsspezifische Gewalt als die Grundrechtsverletzung und das Hindernis für die ländliche Entwicklung angesehen wird, das sie wirklich ist.
Wie Tina, die die Erforschung der Auswirkungen von geschlechtsspezifischer Gewalt nun in den formalen Rahmen ihrer Forschung einbezieht, können und müssen wir das Leben der Frauen, mit denen wir arbeiten, verändern – und die Ergebnisse und die Wirksamkeit unserer Forschungsarbeit werden stärker und legitimer sein.
Emily Brown
* Tina Beuchelt und Dennis Aviles sind Wissenschaftlerinnen am ZEF. Emily Brown ist eine freiberufliche Beraterin und arbeitete für viele Jahre bei OXFAM, UK.
[i] Femicide Census. 2020. Online available at: https://www.femicidecensus.org/wp-content/uploads/2022/02/010998-2020-Femicide-Report_V2.pdf [ii] de Gregorio, L. 2022. Einen Schritt vor, zwei zurück. Amnesty Journal, 02/22, p.13. https://www.amnesty.de/journal/2022/feminismus-ist-fuer-alle-da-frauenrechte-weltweit [iii] CARE. 2020. Where are the women? The Conspicuous Absence of Women in COVID-19 Response Teams and Plans, and Why We Need Them. Online available at: https://www.care-international.org/files/files/CARE_COVID-19-womens-leadership-report_June-2020.pdf [iv] Akter, S., Chindarkar, N. 2019. The link between mothers’ vulnerability to intimate partner violence and Children’s human capital. Social Science Research, Vol. 78, 187-202 [v] Hughes, C., Bolis, M., Fries, R. and Finigan, S. (2015). Women’s economic inequality and domestic violence: Exploring the links and empowering women. Gender & Development, 23(2), 279-297. [vi] Weldon, S.L., Htun, M. (2013). Feminist mobilization and progressive policy change: why governments take action to combat violence against women. Gender & Development 21(2): 231–47. [vii] World Bank. 2012. World Development Report 2012: Gender Equality and Development. Online available at: https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/4391 [viii] Raising Voices. nd. Sasa! Online available at: https://raisingvoices.org/sasa/#tabs-419-0-3 [ix] Mayoux, L., Baluku, P., Biira, J., Reemer, T. 2012. Balanced Trees Grow Richer Beans: Promoting Gender Justice through Value Chain Development in Western Uganda. Gender Action Learning System Case Study 1. Online available at: https://gamechangenetwork.org/wp-content/uploads/2016/06/BalancedTrees_Case-Study.pdf